Der russische Schriftsteller Leo Tolstoi war ein grosser Kritiker der Religion und der Kirchen seiner Zeit und hat die Evangelien neu übersetzt, um deutlich zu machen, worum es seiner Meinung nach geht im Leben: «Es geht darum, dass Menschen einander lieben und Böses nicht mit Bösem vergeltet werden soll.»
Obwohl der Dichter sich damit viele Feinde gemacht hatte beim Staat und der Kirche, ging er weiter auf seinem Weg. Später sind andere ihm gefolgt, darunter Mahatma Gandhi, als er seine Lehre des gewaltlosen Widerstandes (satyagraha) entwickelte.
Für Tolstoi ist die Wahrhaftigkeit die oberste aller Tugenden. Wahrhaftigkeit ist eine Haltung, welche auf die Übereinstimmung zwischen Lehre und Leben abzielt. Wahrhaftigkeit heisst: Die Wahrheit muss nicht gepredigt, sondern gelebt werden.
Als Richtlinie dafür sieht Tolstoi drei Fragen die sich in jeder Situation stellen und die jedes Mal von Neuem eine Antwort erfordern:
1. Welches ist der richtige Zeitpunkt?
2. Wer ist der wichtigste Mensch?
3. Was ist unsere wichtigste Aufgabe?
Die Antworten darauf:
1. Der richtige Zeitpunkt ist dieser Augenblick, nur über ihn verfügen wir.
2. Der wichtigste Mensch ist der, mit dem uns der Augenblick zusammenführt.
3. Die wichtigste Aufgabe ist, dieser Person etwas Gutes zu erweisen – denn nur dazu ist der Mensch ins Leben gerufen worden.
Die Brisanz dieser Aussagen ist leicht zu überlesen. Sie hören sich so simpel an. Sind sie zu einfach? Nur solange sie auf dem Papier bleiben.
In der Praxis sieht es schon anders aus. Der richtige Zeitpunkt, der Augenblick also, ist leicht zu verpassen, weil die Gedanken bereits anderswo sind. Der wichtigste Mensch ist leicht zu übersehen, weil andere wichtiger scheinen. Und diesem Menschen etwas Gutes zu tun, dafür fehlt manchmal die Bereitschaft und fast immer die Zeit – womit wir wieder bei der ersten Frage sind.
Genau hier beginnt es. Was jemand glaubt oder nicht glaubt, ist weniger wichtig als die Frage, wie jemand lebt und handelt. Auf die Früchte kommt es an, auf die äusseren Folgen einer inneren Haltung.
Zurück zu den Wurzeln heisst für Tolstoi: Zurück zu einer Spiritualität, deren Wahrheit sich in der Praxis erweist. Auch wenn es manchmal schwer fällt…
Auf den Versuch kommt es an. Und auf den Mut, ihn immer wieder neu zu wagen.
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